Von der Wildrebe zum kontrollierten Anbau
Die Weinrebe zählt zu den ältesten Pflanzen der Welt. Bereits vor 100 Millionen Jahren, im Zeitalter der Dinosaurier, besiedelt sie den Globus in Form der ersten Wildreben.
Sie wachsen in Wäldern, ranken sich an Bäumen bis zu acht Meter in die Höhe und durchlaufen bereits vor der menschlichen Kultivierung, die erstmals in der Jungsteinzeit zwischen 7000 und 5000 v. Chr. erfolgt, einen munteren Wandlungsprozess.
Klimakatastrophen, Schädlinge und zahllose Mutationen verändern das Gesicht der Weinrebe fortlaufend. Die meisten aller jemals existierenden Wildreben sind heutzutage ausgelöscht, doch ihre Erbinformationen leben
weiter.
Transportiert wird die DNA im Rahmen spontaner Kreuzungen. Die zweigeschlechtliche Wildrebe, deren männliche und weibliche Anteile in der Blüte vereinigt sind, tendiert durch den Mix aus Eigenbefruchtung und der Befruchtung durch fremde Weinblüten zu bunten Mutationen.
Besonders hoch ist die Mutationswahrscheinlichkeit, wenn verschiedene Rebsorten nebeneinander wachsen. Über mehrere Generationen hinweg führt dieser Prozess zur Entstehung neuer Rebsorten. Vor der menschlichen Kultivierung geschieht die Kreuzung rein natürlich.
Seit rund 8000 Jahren kontrolliert der Homo sapiens den Selektionsprozess, indem er widerstandsfähige, ertragreiche Sorten anbaut und die anderen Varietäten ignoriert. Denn längst nicht jede Rebsorte bringt guten Wein hervor.
Vitis vinifera: “Die” Weinrebe seit der Antike
Von Mesopotamien bis ins Alte Ägypten verwenden antike Hochkulturen eine bestimmte Unterart aus der Gattung der Reben, zu der bis heute alle berühmten Rebsorten zählen: Vitis vinifera – die vorderasiatisch-europäische Weinrebe.
Dass ausgerechnet diese Varietät aus dem Nahen Osten nach Europa gelangt, von den Römern in unseren Breitengraden kultiviert und zum Eckstein der modernen Weinkultur wird, hat einen simplen Grund: Ihre höhere Schmackhaftigkeit gegenüber amerikanischen und asiatischen Reben.
Die Tatsache, dass nur die Vitis vinifera genießbaren Wein hervorbringt, wird erstmals im Jahr 1753 durch den schwedischen Naturforscher Carl von Linné dargestellt. In seinem Jahrhundertwerk “Species Plantarum” kategorisiert er die Gattung der Reben und identifiziert “die Weinrebe”, wie der Name Vitis vinifera übersetzt heißt, als eigene Unterart.
Die europäischen Kolonialisten exportieren die Vitis vinifera nach Amerika, Afrika und Australien, wo sie wiederum fröhlich mutiert. Schätzungen zufolge gingen bis heute rund 8.000 verschiedene Rebsorten aus der Vitis vinifera hervor, darunter alle bekannten Klassiker – von den roten Trauben des Cabernet Sauvignon, Syrah und Pinot Noir bis zu den weißen Reben des Chardonnays, Rieslings und Co.
Klassifizierung der Weingewächse
Um die Einordnung der Vitis vinifera besser zu verstehen, sollten wir einen Blick auf die Familie der Rebengewächse (Viticae) werfen. Ihre Gattung der Weinreben (Vitis) enthält zwei Unter-Gattungen: Die aus drei Spezies bestehende, für den Weinbau ungeeignete Muscadinia und die Euvitis, welche unseren Wein hervorbringt.
Euvitis umfasst rund 60 verschiedene Arten (Spezies), die wiederum in drei Gruppen unterteilt werden: Während die Asiaten und Amerikaner jeweils rund 30 verschiedene Arten enthalten, sind die Europäer mit nur einer einzigen Art vertreten – der Vitis vinifera.
Neben ihr sind vor allem amerikanische Reben wie Vitis labrusca, Vitis riparia und Vitis rupestris ein spannendes Thema und Rätsel zugleich. Denn obwohl der amerikanische Kontinent seit über 10.000 Jahren von Menschen besiedelt ist, existieren bis heute keine Funde, die amerikanische Weine aus vorchristlicher Zeit belegen. Wie kann es sein, dass die Europäer den amerikanischen Hochkulturen in diesem Punkt um mehrere Jahrtausende “voraus” waren?
Die beste Erklärung liegt in der eingeschränkten Fähigkeit amerikanischer Reben zur Weinerzeugung. Erstens sorgen oftmals zu hohe oder zu niedrige Zuckergehalte für eine erschwerte Herstellung, ebenso wie das Fehlen von Hefen, die zur Umwandlung des Zuckers in Alkohol vonnöten sind.
Zweitens ist die Genießbarkeit strittig. So zeichnen sich die Trauben der Unterart Vitis labrusca durch einen strengen Geschmack aus, der in der Fachsprache “Fox-Ton” (Fuchsgeschmack) heißt.
Viele Menschen bringen ihn mit dem äußerst unerwünschten Aroma von Katzenurin in Verbindung. Nutzlos sind die amerikanischen Reben jedoch keineswegs. Spätestens im 19. Jahrhundert sollten sie ihr volles Potential entfalten und der Weinwelt helfen, sich von ihrer fatalsten Katastrophe zu erholen.
Die Reblauskatastrophe: Umbruch für die Weinwelt
Ein kleiner Schädling ist es, der ab den 1860er-Jahren bis 1915 unsägliche Zerstörungen im Weinbau herbeiführt: Die Reblaus (Phylloxera). Von der amerikanischen Ostküste über London ins südliche Frankreich und später in nahezu alle Weinländer weltweit exportiert, vernichtet sie allein in Frankreich rund 2,5 Millionen Hektar Rebfläche.
Viele gebietstypische Sorten werden bis heute unwiederbringlich ausgerottet. Erst das Verfahren der Pfropfrebe, das mittlerweile in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben ist, ebnet den Weg aus dem Desaster. Dabei werden europäische Vitis-vinifera-Reben, die nicht reblausresistent sind, auf resistenten amerikanischen Wurzeln gezüchtet.
Man spricht auch von Veredelung. Fast alle weltweit angebauten Rebsorten, die wir heutzutage ins Glas bekommen, sind das Resultat gepfropfter Reben. Eine nennenswerte Ausnahme markiert Chile, das nicht von der Reblaus erreicht wurde und viele seiner Flächen mit wurzelechten (fruchttragender Teil und Wurzelstock von derselben Pflanze) Reben bestockt.
Übrigens: Heutzutage gewinnt die Symbiose amerikanischer und europäischer Reben eine zusätzliche Bedeutung in der Züchtung neuer, pilzwiderstandsfähiger Rebsorten (kurz: Piwis). Ihre größere Hitzetoleranz und generell gesteigerte Robustheit in Zeiten des Klimawandels, aber auch geschmackliche Neuentdeckungen sind vielversprechende Eigenschaften.
DNA-Analyse: Dem Rebsorten-Stammbaum auf der Spur
Seit die Entschlüsselung genetischer Pflanzen-Codes mittels DNA-Analyse möglich ist, können Forscher den Stammbaum der Vitis vinifera in zunehmender Präzision ergründen. Zwei Rebsorten wurden als wesentliche Urahnen der heutigen Weinwelt identifiziert: Während der Traminer als Vater der französischen Blutlinie inklusive Pinot Noir, Weiß- und Grauburgunder sowie Sauvignon Blanc, Silvaner und Grünem Veltliner gilt, betrachtet die Ampelographie den Weißen Heunisch als Vorläufer von Riesling, Chardonnay, Furmint, Aligoté und Auxerrois.
Den gesamten Stammbaum der Vitis vinifera mit ihren schätzungsweise 8.000 bis 10.000 verschiedenen Rebsorten aufzulösen, ist bisher allerdings unmöglich. Alle uns bekannten Rebsorten haben zwei Elternteile, von denen manche unbekannt sind.
Die Ahnen des Rieslings beispielsweise, dem deutschen Rebsorten-König Nummer Eins, können bisher nicht zweifelsfrei bestimmt werden. Vermutlich ist er eine Kreuzung aus Heunisch und einer anderen Rebe, die wiederum eine Kreuzung aus Traminer und einer rheinischen Wildrebe ist.
Darüber hinaus offenbarten DNA-Analysen bereits einige spannende Fakten: Wussten Sie, dass der italienische Primitivo und der amerikanische Zinfandel im Grunde dieselbe Rebsorte sind und von der kroatischen Varietät “Crljenak” abstammen? Oder dass der berühmte Cabernet Sauvignon ein Kind der ebenfalls populären Bordeaux-Varietäten Sauvignon Blanc und Cabernet Franc ist? Diese und eine Fülle anderer interessanter Infos enthält das ultimative Rebsorten-Buch der Moderne: “Wine Grapes: A complete guide to 1,368 vine varieties, including their origins and flavours” von den britischen Masters of Wine Jancis Robinson und Julia Harding sowie des Schweizer Rebsorten-Genetikers Dr. José Vouillamoz.
Trend: Steigende Bedeutung von Qualitätssorten
Welche Rebsorten besitzen in der heutigen Weinwelt die stärkste Bedeutung? Urteilt man nach Anbaufläche, ist Cabernet Sauvignon laut der Schweizer Weinschule Académie du Vin mit derzeit 290.000 Hektar weltweit führend. Zum Vergleich, die gesamte deutsche Rebfläche beträgt rund 103.000 Hektar. Auf den nachfolgenden Plätzen landen:
2) Merlot (267.000 ha)
3) Airén (252.000 ha)
4) Tempranillo (233.00 ha)
5) Chardonnay (199.000 ha)
6) Syrah (186.000 ha)
7) Garnacha Tinta (185.000 ha)
8) Sauvignon Blanc (110.000 ha)
9) Trebbiano (110.000 ha)
10) Pinot Noir (87.000 ha)
Auffallend ist zudem die gegenüber früheren Zeiten steigende Bedeutung qualitativ hochwertiger Rebsorten. Als Massenträger, also vorwiegend für anspruchslose Grundweine (z.B. für Cognac) genutzte Varietäten, sind nur noch Airén und Trebbiano in der Top 10 vertreten.
Gleichzeitig offenbart sich eine weltweite Zunahme der Rebfläche für anspruchsvolle Rebsorten wie Tempranillo, Syrah und Cabernet Sauvignon, während Massenträger wie Garnacha Tinta oder Bobal an Bedeutung verlieren. Damit repräsentiert die Rebsorten-Welt einen internationalen Wandel zu hochwertigeren Weinen.
Faszination Wein: Mit Rebsorten die Welt entdecken
Wer sich frisch fürs Thema Wein interessiert und das Universum der edlen Tropfen entdecken möchte, sollte direkt zu Beginn die wichtigsten Rebsorten mitsamt ihrer typischen Geschmacks- und Geruchsnoten erkunden. Auf diese Weise lassen sich persönliche Präferenzen aufdecken, welche die zukünftige Weinreise um die Terroirs der Erde dominieren sollten. Wie schlagen sich verschiedene Herkünfte, Erzeuger und Altersklassen auf den Charakter derselben Rebsorte nieder? Selbst jahrelang erfahrene Weinliebhaber schöpfen meist einen großen Teil ihrer Faszination aus der endlosen Rebsortenvielfalt, die in unsere Gläser und Keller gelangen kann. Unsere VINOWO-Artikelserie zum Thema Rebsorten führt Sie verständlich ins Thema ein – von länderspezifischen Varietäten aus Deutschland, Österreich und Übersee bis hin zu seltenen Rebsorten, den wichtigsten Vertretern in Rot und weiß sowie dem Einfluss des Terroirs.