Die Faszination Wein mit all ihren Regionen, Rebsorten und geselligen Anlässen hat eine Schattenseite: Alkohol gefährdet die Gesundheit. Umso verlockender die Idee, dem Genussmittel seine schädlichste Komponente zu entziehen. VINOWO blickt hinter den Trend um alkoholfreien Wein, erklärt seine Herstellung und beleuchtet die Frage, ob “null Alkohol” für echte Weingenießer eine Alternative sein kann.
Carl Jung: Erfinder des alkoholfreien Weins
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beobachtet der Rheingauer Winzersohn Carl Jung eine besorgniserregende Entwicklung: Viele seiner Kunden müssen auf den geliebten Weingenuss verzichten, weil sie Leberprobleme, ein geschädigtes Herz-Kreislauf-System und andere gesundheitliche Folgen zur Abstinenz zwingen. Die Frage, ob Wein auch alkoholfrei genießbar ist, beantwortet Jung im Jahr 1908 mit der Einführung der Vakuumdestillation. Dieses später patentierte Verfahren ermöglicht ihm, klassische Weine bis zu 100 Prozent vom Alkohol zu befreien. Noch heute ist der Erfinder des alkoholfreien Weins auf Genuss ohne Umdrehungen fokussiert: Im Rüdesheimer Schloss Boosenburg ansässig, zählt Carl Jung zu den bekanntesten deutschen Herstellern der gesundheitsschonenden Alternative.
Geht man nach Marktanteil am Gesamtweinmarkt, kann von einer echten Alternative jedoch keine Rede sein. Angaben des Deutschen Weininstituts (DWI) zufolge ist rund eine von 100 verkauften Weinflaschen hierzulande entalkoholisiert. Das Problem ist aromatischer Natur: Als Geschmacksträger spielt Alkohol eine zentrale Rolle im Gerüst des Weins. Er macht Tannine weicher, mildert die Säure ab, sorgt für Vollmundigkeit und steigert nicht zuletzt die Haltbarkeit des fermentierten Traubensafts. Im Februar 2023 testete das Weinmagazin Falstaff zahlreiche alkoholfreie Weine und resümierte, dass trotz fehlerfreier Beschaffenheit keiner der Tropfen einem echten Weingenießer zumutbar sei. Viele feine Nuancen, die beispielsweise eine geschmackliche Differenzierung verschiedener Rebsorten ermöglichen, fallen der Alkoholbefreiung zum Opfer.
Neuer Aufwind für eine alte Idee
Nichtsdestotrotz lassen die vergangenen 20 Jahre eine signifikante Qualitätsverbesserung beobachten. Hersteller rücken ihrem Ziel, das komplette Geschmackserlebnis des Weins ohne Alkohol abzubilden, immer näher. Und die Nachfrage steigt. Das Londoner Marktforschungsinstitut IWSR schätzt zwischen 2019 und 2022 einen Anstieg des britischen Umsatzes um 59 Prozent. Global stieg die verkaufte Menge alkoholreduzierter oder -freier Getränke von 2021 auf 2022 um sieben Prozent. Von 2022 bis 2026 wird eine weitere Zunahme um sieben Prozent erwartet. Drei zentrale Argumente bewegen Konsumenten zum verstärkten Kauf alkoholfreien Weins: Erstens soziale Gründe, etwa das Anstoßen zu geselligen Anlässen, zweitens die fortbestehende Fahrtüchtigkeit und drittens ein genereller Verzicht auf Alkohol.
Unter allen alkoholfreien Weinen, zu denen Rot-, Weiß-, Rosé- und Schaumweine zählen, erfreuen sich die prickelnden Tropfen der höchsten relativen Beliebtheit: Laut Deutschem Weininstitut beträgt der Marktanteil am generellen Sektmarkt rund sechs Prozent. Die Akzeptanz alkoholfreien Weins ist unter Frauen höher; das DWI schätzt den Anteil weiblicher Konsumentinnen auf 60 bis 66 Prozent.
Vakuumdestillation: Am Anfang steht normaler Wein
Zurück zu Carl Jung und der Vakuumdestillation. Das Interessante am alkoholfreien Wein ist, dass seine Herstellung in den ersten Schritten identisch zu herkömmlichem Wein ist. Der abgepresste Traubenmost wird vergoren, wobei sein enthaltener Zucker mithilfe von Hefen in Alkohol umgesetzt wird. Dieser Prozess ist entscheidend, weil viele der uns bekannten Weinaromen erst während dieser Gärung entstehen. Haben Sie sich schonmal gewundert, warum Wein selten nach Trauben und stattdessen nach allerlei anderen Früchten sowie Sekundäraromen schmeckt?
Im Anschluss an die Gärung erfolgt die Entalkoholisierung, die auf verschiedenen Wegen erfolgen kann. Vor Carl Jungs Erfindung nutzte man beispielsweise die Umkehrosmose und Dünnschichtverdampfung – beide Optionen verfälschen die Aromen massiv. Erst die Vakuumdestillation brachte den Durchbruch. Normalerweise verdampft Alkohol erst bei 80 Grad Celsius, doch im Vakuum senkt sich diese Temperatur auf 27 Grad Celsius ab. Dieser Trick ermöglicht einen schonenden Entzug des Alkohols, extrahiert jedoch auch viele Aromen des Weins. Um diese aufzufangen und zurück ins Getränk zu speisen, erfolgt eine sogenannte Aroma-Rückgewinnung. Die konkreten Schritte der Entalkoholisierung können Sie sich folgendermaßen vorstellen:
1.) Schonende Erwärmung des noch alkoholhaltigen Weins in der Entalkoholisierungs-Anlage. Diese besteht aus Trichtern, auf denen der Wein unter Vakuum einen dünnen Film bildet. Diesem Film werden die leicht flüchtigen, geschmackstragenden Aromen entzogen. Die Aromen werden separat gelagert.
2.) Entalkoholisierung: Der Alkohol verdampft unter Vakuum (fast) vollständig aus dem Wein.
3.) Rückführung der Aromen: Die getrennt aufbewahrten Aromastoffe werden zurück in die Flüssigkeit gegeben.
4.) Oftmals erfolgt eine abschließende Nachsüßung, um den jetzt alkoholfreien Wein in der beliebten halbtrockenen Geschmacksrichtung anbieten zu können.
“Ohne Alkohol” oder “alkoholfrei”: Ein wichtiger Unterschied
Wie alkoholfreies Bier, das entgegen seiner Bezeichnung bis zu 0,5 Volumenprozent Alkohol enthalten darf, muss alkoholfreier Wein nicht zu 100 Prozent befreit sein. Hier gilt dieselbe Toleranzgrenze von 0,5 Volumenprozent. Wer besonderen Wert auf absolute Alkoholbefreiung legt, beispielsweise als trockener Alkoholiker oder Schwangere, sollte Wein mit der Bezeichnung “ohne Alkohol” kaufen. Dieser muss tatsächlich 0,0 Prozent Alkohol enthalten.
Kein Traubensaft: Wie schmeckt alkoholfreier Wein?
Die Frage, ob alkoholfreier Wein überhaupt Wein genannt werden sollte oder eine separate Getränkekategorie neben den herkömmlichen Tropfen darstellt, ist umstritten. Weinkennern fällt es typischerweise leicht, alkoholfreien Wein in einer Blindverkostung von seinen alkoholhaltigen Konterparts zu unterscheiden: Im Allgemeinen wird der Geschmack als milder, fruchtiger und weicher relativ zu klassischem Wein beschrieben, differenziert sich geschmacklich jedoch klar von Traubensaft. Letzterer wird nicht vergoren, was ihn erstens süß macht und zweitens keine Aromen zulässt, die während der Gärung entstehen. In beiden Kriterien ist der alkoholfreie Wein verwandter mit regulärem Wein, weil er aus vergorenem Grundwein produziert wird.
Seine größte Kritik von Expertenseite muss der alkoholfreie Wein infolge der reduzierten aromatischen Komplexität einstecken. Einerseits fehlt Alkohol als Geschmacksträger, was das Gesamtbild in der Nase und am Gaumen typischerweise simpler erscheinen lässt. Zweitens erschwert der fehlende Alkohol eine Fasslagerung immens, weil die verringerte Haltbarkeit mit der Gefahr einhergeht, dass der Wein kippen könnte. Folglich sind alkoholfreie Weine mit Holzeinsatz extrem selten. Generell fehlt dem alkoholfreien Wein die Faszination eines lagerfähigen Weins, der Geschichten erzählt und die Sammlung des Enthusiasten bereichert.
Alkoholfrei: Weiß, Rot oder Schaum?
Die meisten Weintrinker, die schon einmal alkoholfrei getrunken haben, sind sich einig: Weißwein verträgt die Spezialbehandlung besser als Rotwein. Trotz moderner und kontinuierlich weiterentwickelter Verfahren zur Alkoholextraktion scheinen sich selbst renommierte Erzeuger schwer damit zu tun, die Seele eines Cabernet Sauvignons, Syrahs oder Merlots während der Vakuumdestillation zu erhalten. Hinzu kommt, dass diese Rebsorten oftmals enorm von einer gewissen Lagerdauer profitieren. Was entsteht, sind simple, zu weiche und aromatisch anspruchslose Rotweine, die keinen Enthusiasten emotional abholen. Anders der frische Weiß-, Rosé- oder Schaumwein: Top-Erzeugern wie Carl Jung gelingen vor allem mit Riesling überraschend ansprechende Weine, die wir jedem Weintrinker zur Bereicherung seiner Erfahrung empfehlen. Zumindest, um mitreden zu können. Die Kohlensäure des Schaumweins ist wie bei Bier, dessen Akzeptanz als alkoholfreie Version kontinuierlich ansteigt, ein maßgeblicher Grund für seinen ansprechenden Charakter.
Masse statt Klasse?
Die meisten alkoholfreien Weine liegen preislich unterhalb der 10-Euro-Grenze und somit bestenfalls dort, wo hochwertiger Wein anfängt. Der Fokus aufs erschwingliche Segment liegt vor allem an der reduzierten Zahlungsbereitschaft: Während Weine jenseits der 20, 30 oder 50 Euro überwiegend von Enthusiasten getrunken werden, die nicht im Traum auf alkoholfreie Tropfen umsteigen würden, richtet sich alkoholfreier Wein fast ausschließlich an Durchschnittstrinker. Diese Zielgruppe pflegt keine sonderliche Begeisterung für Wein, trinkt ihn aber gerne zu geselligen Anlässen und kann jetzt ein Weinglas in der Hand halten, ohne den Körper mit Prozenten vollzupumpen. “Masse statt Klasse” wäre jedoch keine treffliche Beschreibung des Gesamtmarktes, weil viele Erzeuger hohen Wert auf Qualität legen.
Welche Erzeuger sind einen Versuch wert?
Neben Carl Jung ist der Rheingauer Winzer Josef Leitz eine feste Größe im Segment für alkoholfreien Wein. Sein Riesling “Eins-Zwei-Zero” wird von vielen Kritikern für seine Nähe vom alkoholhaltigen Original gelobt. Ebenfalls im qualitativ hochwertigen Segment unterwegs ist KOLONNE NULL, ein in Berlin ansässiges Unternehmen, das mit verschiedenen Familienweingütern von der Mosel, Nahe, dem österreichischen Weinviertel und aus anderen Regionen kooperiert. Andere Branchengrößen wie Oddbird, der größte Produzent von alkoholfreiem Wein und Bier aus Skandinavien, verfolgen ein ähnliches Konzept: Das Unternehmen kooperiert mit Winzern aus Italien und Frankreich. Von der in gehobenen Weinkreisen beliebten Idee der Erzeuger- oder Gutsabfüllung, die eine komplette Weinerzeugung aus der Hand des Winzers vorsieht, sind diese Konzepte denkbar weit entfernt. Marketing spielt im Universum alkoholfreier Weine eine wichtigere Rolle als Tradition.
Fazit: Es gibt noch Verbesserungspotenzial
Alkoholfreien Wein als vollwertigen Ersatz für klassischen Wein zu bezeichnen, ist unserer Ansicht nach realitätsfern. Ob sich das in Zukunft ändern wird? Die bereits erzielten Fortschritte geben Anlass zur Hoffnung. An zu bewältigenden Herausforderungen mangelt es jedoch nicht: Um echte Weingenießer begeistern zu können, müssen Winzer an der aromatischen Komplexität, potenziellen Lagerfähigkeit und höheren qualitativen Aufstellung arbeiten. Doch egal, wie gut alkoholfreier Wein eines Tages sein wird – für die meisten Genießer wird er nicht infrage kommen. Der klassische Wein, wie wir ihn kennen und lieben, ist einfach schon viel zu gut.